Kaum einen Begriff hören wir in herausfordernden Zeiten so häufig wie „Krise“. Unsere Assoziation ist dabei meist emotional und reflexhaft negativ. Wir deuten Krise gerne als Vorstufe einer nahezu unabwendbar folgenden Katastrophe. Gottseidank dürfen wir uns nach den meisten Krisen freuen, dass wir sie doch überlebt haben und vielleicht sogar gestärkt aus ihnen herauskommen. Ist also Krise per se immer etwas Schlechtes? Hier und heute mal ein Versuch, die Krise aus der verbalen und mentalen Schmuddelecke herauszuholen.

Starten wir einmal mehr mit dem Begriff selbst. Das Wort Krise leitet sich aus dem altgriechischen „krísis“ ab. Laut Wikipedia bedeutet es Meinung, Beurteilung, Entscheidung, auch Zuspitzung. Von Untergang und Katastrophe keine Spur. Auch Philosophen und Wissenschaftler beschäftigen sich seit langem mit der Krise. Ihren Deutungen ist gemein, dass vor einer Krise Veränderungen stattfinden, meist eine Erschütterung des bisherigen Staus Quo, der irgendwann nicht mehr ignoriert und ausgesessen werden kann. Sie beschreiben die Krise als den Höhepunkt bzw. den Wendepunkt einer solchen Veränderung und der dadurch zugespitzten Situation. Krise ist spätestens dann, wenn die zugespitzte Situation gravierende Entscheidungen und massive Handlungen zu ihrer Bewältigung erfordert. Zum Zeitpunkt der Entscheidungen ist der Ausgang der Krise offen. Sie kann in die Katastrophe führen, sie kann aber ebenso gut ausgehen und dabei vielleicht sogar Fortschritt und Wachstum bringen.
Ein weiteres Merkmal der Krise ist, dass ihr Konflikte vorausgehen oder spätestens dann auftreten, wenn sie akut wird. Eine Krise löst immer Spannungen aus. Ohne die vollständige oder weitgehende Überwindung solcher Spannungen und Konflikte kann eine Krise nicht gelöst werden. Das ist darum bedeutsam, weil die Mehrzahl der wirklichen Innovationen und Fortschritte der Menschheit aus Drucksituationen, einem gefühlten Mangel oder eben einer Krise entstanden sind. Schon Heraklit von Ephesos stellte in seiner Philosophie fest: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge und der König aller.“ Damit meinte er nicht allein die militärische Auseinandersetzung, sondern jede Art von Spannung und Veränderung, die den Impuls zur Schaffung von etwas Neuem gab. Wesentliche Teile unserer Entwicklung als Menschheit, unserer Technologien, unserer Gesellschaft und all der anderen Dinge, mit denen wir heute leben, sind also das Ergebnis vorausgegangener Krisen und der entsprechenden Reaktionen darauf.
In Politik und Wissenschaft findet sich dafür unter anderem der Begriff der „schöpferischen Zerstörung“. Karl Marx verarbeitet den Gedanken, dass erst die Zerstörung eines alten Systems den Raum für ein neues System schafft, im „Kommunistischen Manifest“ und in „Das Kapital“. Der Ökonom Josef Schumpeter brachte den Gedanken, auch im Zusammenhang mit dem damals neuen Begriff der Innovation, in den 1940er Jahren in seinen Werken in die Wirtschaftswissenschaften ein. Die Spannungen zwischen der alten und der neuen Ordnung führen irgendwann unausweichlich zum Wendepunkt. Das ist die Krise, zumindest ihr Höhepunkt. Die Zeit ist reif, etwas Neues zu tun.
Auslöser für Krisen gibt es reichlich. Gefühlt nimmt die Zahl und der Takt der Krisen beständig zu. Das liegt einerseits daran, dass alleine aus der zunehmenden Komplexität und Verflechtung der Welt viele neue Anlässe für Krisen entstehen. Darum macht seit Ende der 1990er Jahre immer häufiger der Begriff der Polykrise die Runde. Unsere Wahrnehmung zu den Krisen dieser Welt wird natürlich stark auch durch die mediale Berichterstattung befeuert. In früheren Zeiten bekamen wir schlicht nichts von vielen Krisen in anderen Teilen der Welt mit. Die Polykrisen der heutigen Tage sind also das Produkt aus faktisch mehr Krisen mal der medialen Präsenz derselben.
Was macht eine Krise mit uns Menschen? Zuerst sorgt Sie bei den meisten von uns für Unsicherheit. Steht lange Gewohntes, steht damit ein Teil unserer gefühlten Sicherheit plötzlich in Frage oder werden unsere gewohnten Lebensumstände erschüttert, entsteht aus dieser Unsicherheit rasch Angst – der schlechteste Ratgeber zur Bewältigung neuer Herausforderungen. Der italienische Philosoph und Autor Antonio Gramsci beschrieb in seinen „Gefängnisheften“ in den 1930er Jahren so treffend den Schmerz, den eine Krise in uns Menschen auslöst: „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“ (Quelle: https://beruhmte-zitate.de/zitate).
Die jüngere Vergangenheit gab uns reichlich Möglichkeiten im praktischen Umgang mit Krisen. Beispiel Corona-Pandemie: sie veränderte über mehrere Jahre unseren privaten und beruflichen Alltag massiv, erschütterte unsere Sicherheiten und Gewohnheiten zutiefst. Und doch haben wir uns recht rasch so organisiert, dass wir über diese Zeit gekommen sind. Das war nicht schön und bequem, aber es hat funktioniert. Manches ist geblieben an neuen Gewohnheiten. Der massive Ausbau des mobilen Arbeitens etwa und darin eine neue Selbstverständlichkeit in der Nutzung digitaler Kommunikations- und Kollaborationswerkzeuge ist wesentlich getrieben durch die Erfahrungen der Corona-Pandemie. Die Krise führte zu einer kollektiven Lernerfahrung und schuf neue Gewohnheiten und Normalitäten.
Aktuell erleben wir eine geopolitische Neusortierung der Welt. Eine Krise mit noch nicht absehbaren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Folgen. Wohin das Deutschland und Europa führen wird, darüber soll hier nicht spekuliert werden. Sehr sicher ist jedoch, dass es tiefgreifende Veränderungen für unsere Gesellschaft bringen wird. Dieser Umbruch wird umfangreich, unbequem und definitiv neue Ordnungen und Normalitäten schaffen. Der Weg dorthin ist mit reichlich Angst und Unsicherheit gepflastert. Selbst das bislang Unvorstellbare, ein neuer Krieg bei uns mitten in Europa, gehört wieder zu den möglichen Szenarien. Noch ist unklar, wo in dieser Krise wir derzeit stehen. Vielleicht schon auf dem Höhepunkt und am Wendepunkt, vielleicht erst auf dem Weg dorthin.
Ein Ergebnis dieser Krise kann sein, dass Europa (und Deutschland darin) künftig eines der vier oder fünf globalen Machtzentren wird. Vielleicht autark und nicht mehr in Abhängigkeit von den USA. Hoffentlich auf Grund einer neuen eigenen Stärke auf Augenhöhe mit den anderen globalen Machtzentren. Voraussetzung dazu ist eine gewaltige, per dato noch kaum vorstellbare Entwicklung und Verschiebung politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prioritäten und Handlungen. Diese werden gewaltige Spannungen in den europäischen Gesellschaften auslösen. Der Ausgang ist offen. Die Bewältigung dieser Krise liegt alleine in der Hand der europäischen Regierungen und der gesellschaftlichen Kräfte. Die Möglichkeit, aus dieser Krise heraus eine neue und starke europäische Allianz zu schmieden, ist hoffentlich die Handlungsoption, zu der Europa sich entscheidet.
Zurück zu uns und unserem Umgang mit Krisen. Halten wir es doch einfach mit Prof. Matthias Varga von Kibéd, der vor einigen Jahren in einem Interview einmal sinngemäß sagte: „Eine Krise ist erst einmal die Notwendigkeit, eine Lage neu zu bewerten“. Große und konfliktbeladene Veränderungen, die in eine Krise führen, finden immer wieder statt, das ist der natürliche Gang der Dinge, das können wir nicht verhindern. Krisen sind der Entscheidungspunkt und Impuls, Abschied vom Alten zu nehmen und das Neue zu gestalten. Unser Umgang mit der Krise ist der entscheidende Faktor, der darüber bestimmt, wie die Krise ausgeht – nicht die Krise selbst oder deren Anlass. Den Rat von Prof. Varga von Kibéd, Gelassenheit und nüchterne Souveränität im Umgang mit Krisen zu entwickeln, sollten wir uns darum zu eigen machen. Das ist die Voraussetzung für konsequentes Handeln, um eine Krise zu überwinden. Und es hilft uns, Krisen emotional gut zu überstehen und für unser Wachstum zu nutzen. Verschaffen wir doch dem laxen Spruch „Ich kriege die Krise“ eine positive Wendung. Nutzen wir die Krisen unserer Tage zu unserem langfristigen Vorteil. Das nimmt der Krise viel von ihrem Schrecken und gibt uns wieder Souveränität in unserem Denken und Handeln.
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