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ghochstein

Freie Radikale

Am 5. März 2018 riss eine Lawine Marc-André Leclerc und seinen Kletterpartner Ryan Johnson beim Abstieg von den Mendenhall-Türmen in Alaska in den Tod. Der kanadische Ausnahmebergsteiger wurde nur 25 Jahre alt; trotzdem galt und gilt er bis heute als eine Ausnahmeerscheinung im Alpinismus, der die Grenzen insbesondere der Freikletterei ein Stück weit verschoben hat. Er meisterte zahlreiche neue Routen, Erstbegehungen und Aufstiege unter härtesten Bedingungen. „Unmöglich“ findet sich häufig in den Kommentaren und Bewertungen seiner Touren.



Zusätzlich zu seinen bergsteigerischen Leistungen ist der Umstand bemerkenswert, dass er lange Zeit ein Art Geist in der Alpinisten-Szene war. Kaum jemand wusste um seine herausragenden Touren und Leistungen an vielen der schwierigsten Berge der Welt. Er selbst machte seine Touren selten publik, fand kaum auf den sozialen Medien statt, besaß sogar lange Zeit kein Mobiltelefon. In einer Welt, in der für jede Selbstverständlichkeit ein Post oder eine andere Form von Widerhall auf irgendeinem digitalen Kanal erzeugt wird, durchaus ungewöhnlich. Er lebte zeitweise in seinem Zelt im Wald oder in einem Treppenhaus, völlig abseits dessen, was wir als normales Leben und normale Lebensumstände verstehen. Sein Lebenslauf war ungewöhnlich und sein Lebensentwurf war radikal anders, auf seine Passion der Kletterei fokussiert. Er bemühte sich wenig um Sponsoren und machte es denen, die über seine Leistungen berichten wollten, durchaus schwer – auch für die Medien war er kaum zu greifen.


Außergewöhnliche Leistungen wie jene von Marc-André Leclerc gedeihen nur auf besonderen Grundlagen. Talent in der Sache hilft, ist manchmal unabdingbare Voraussetzung, reicht aber allein noch nicht aus. Eine besonders stark ausgeprägte Form von eigenem, innerem Antrieb, eine intensive Art der intrinsischen Motivation erzeugt überhaupt erst die Stärke, die solche besonderen Leistungen möglich macht. Extremsportler und andere Menschen, die Außergewöhnliches vollbringen, leben und handeln nach dem Grundsatz „Whatever it takes…“. Sie stellen nicht ihr Ziel in Frage, auch wenn es schwierig wird oder gar unmöglich erscheint, sondern suchen nach den Wegen und Möglichkeiten, ihr Ziel erreichbar zu machen. Kein Weg ist zu schwer, keine Anstrengung zu groß, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, ist da. Der Einsatz, oft bedingungslos und an der Grenze der eigenen Belastbarkeit, unterscheidet sie von den „Normalen“. Dabei sind die äußeren Bedingungen für alle, die sich zum Beispiel an einem bislang als unbesteigbar geltendem Berg versuchen, gleich. Talent, Einsatz, Wille, Kraft und andere persönliche Eigenschaften, die jeder Mensch individuell in sich trägt, machen hier den Unterschied.


Alpinisten sind erst dann erfolgreich, wenn der Gipfel erreicht oder eine schwere Route ganz durchstiegen ist. Sie reden nicht von einem Erfolg, wenn Sie unterwegs umkehren. Marc-André Leclerc sagte einmal nach einem abgebrochenen Versuch, einen schweren Berg in Patagonien im Winter alleine zu besteigen: „Immerhin bin ich am Leben geblieben, das ist doch auch schon etwas“. Nur, um den Berg am Tag danach dann final zu besteigen, aber das ist eine andere Geschichte. In unserem Berufsalltag brechen wir hingegen häufig unterwegs ab oder erfreuen uns an mehr oder weniger wertvollen Teilergebnissen. Nun ist es gut, dass wir uns gottlob eher selten solch extremen Anforderungen unter solchen Risiken stellen müssen wie jene, die zum Beispiel Extrembergsteiger angehen. Aber, Hand aufs Herz, führt nicht eben das dazu, dass wir unsere Grenzen bei dem, was wir bereit – nicht in der Lage – zu leisten sind, sehr eng ziehen? Das Nachverhandeln von Zielen oder, noch ungünstiger, die stillschweigende Akzeptanz, Ziele nicht oder nur zu einem kleinen Teil zu erreichen, ist eher der Normalfall, denn die Ausnahme.


Die Sehnsucht und der starke innere Antrieb, der Marc-André Leclerc und die vielen anderen hervorragenden Bergsteiger ihre Projekte angehen lassen, findet sich in Unternehmen bei den Menschen, die sich mit dem Sinn und Ziel ihres Unternehmens, vielleicht der inspirierenden Vision, verbunden haben und über eine ähnliche Form innerer Motivation verfügen wie jene Extremsportler. Das gelingt natürlich nicht jedem Menschen, und das muss auch gar nicht sein. Es ist jedoch umgekehrt schwierig, ein Unternehmen weiterzuentwickeln, findet sich in ihm nicht eine ausreichend große Zahl an Menschen, die mit genau diesem Mindset eigenständig Ideen entwickeln und diese auch gegen Widerstände vorbringen und umsetzen. Ein Unternehmen eine Zeit lang im Steady State zu halten und dabei rein über Druck und Anweisungen zu führen, ist natürlich möglich und in vielen Fällen der Stand der Dinge. Aber schon das Management von Krisen und erst recht die Zukunftsgestaltung, Transformation und Neuausrichtung von Unternehmen benötigen eben ein Minimum an Kollegen, die mindestens mitgestalten, anstatt nur Befehle auszuführen.


Niemand hat Marc-André Leclerc aufgefordert, seine Touren zu gehen und seine Grenzen auszutesten. Es war seine Art, seine Freiheit zu leben und zu erfahren, verbunden mit einer radikalen Form der Lebensgestaltung und Leistungsbereitschaft. Die Möglichkeit dieser radikalen Form von Freiheit und Eigenverantwortung finden Mitarbeiter in Unternehmen in der Regel nicht vor. Führungskräfte und Vorgesetzte wie auch die Compliance und andere Regelwerke selbst in modern geführten Unternehmen setzen dem gewisse Grenzen. Jedes Unternehmen und jede Führungskraft, so auch Sie, muss für sich entscheiden, wie sie die Balance zwischen Regelwerken und Freiheit gestaltet. Führungskräften muss dabei bewusst sein, dass jedem Mehr an Vorschriften und direktiver Führung in der Regel ein Weniger an Kreativität und eigener Initiative der Mitarbeiter folgt. Daraus folgt ein Mehr oder Weniger an Wirksamkeit im Sinne einer Transformation und Weiterentwicklung des Unternehmens.


Menschen in Ihrem Unternehmen, die „Freie Radikale“ ähnlich eines Marc-André Leclerc sind, müssen Sie als Führungskraft in Ihrem Unternehmen erst einmal aushalten können. Gelingt Ihnen das und bieten Sie ihnen im Idealfall sogar einen Rahmen, in dem sie sich frei entfalten dürfen, steigt die Wahrscheinlichkeit großer Ideen und Lösungen für die Transformation und Zukunftsgestaltung. Sie als Führungskraft stehen dabei vor der Herausforderung, abseits Ihrer üblichen Führungsgewohnheiten und Ihrem Führungsverständnis parallel ein zweites Führungsverständnis für solche „Freie Radikale“ zu leben. Außergewöhnliche Leistungen werden aber immer außergewöhnliche Menschen und Rahmenbedingungen benötigen. Nur Mut, es lohnt sich.


Film zum Thema: "The Alpinist"


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Quelle: Pexels / www.pexels.com  Urheber: Tobias Aeppli    Lizenz: Pexels-Lizenz

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