Gesprengte Ketten - wider der erlernten Hilflosigkeit!
- ghochstein
- 24. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
Martin P. Seligmann, ein amerikanischer Psychologe und der Begründer der positiven Psychologie, beschrieb federführend in den 1960er und 1970er Jahren einen psychologischen Mechanismus, den er „erlernte Hilflosigkeit“ nannte. Nach seiner Analyse war „erlernte Hilflosigkeit“ eine mögliche Vorstufe zu einer Depression. Menschen, die davon betroffen sind, glauben fest, dass sie die Fähigkeit zur eigenen Veränderung bzw. Verbesserung ihrer Lebenssituation verloren haben. Aber nicht nur Menschen, sondern auch Organisationen wie zum Beispiel Unternehmen sind anfällig für eine eigene Art von erlernter Hilflosigkeit. Auslöser dafür sind nach der ursprünglichen Lesart negative Erfahrungen aus der Vergangenheit. In letzter Zeit korrigierte und ergänzte die Psychologie das Konzept der erlernten Hilflosigkeit noch um die sogenannten aversiven Auslöser. Das meint, dass auch Dinge, die Menschen nur (wenn überhaupt) äußerst widerwillig oder mit großer innerer Ablehnung angehen, in die erlernte Hilflosigkeit führen können. Erlernte Hilflosigkeit ist darum, wie der Name schon vermuten lässt, ein gedankliches Konstrukt, ein negativer Glaubenssatz, der Menschen wie auch Unternehmen hemmt, wieder transformatorisch aktiv zu werden und etwas zum Guten zu verändern.

Aber wie kommt es dazu, dass sich Unternehmen diese Art von Ketten selbst anlegen, ohne dass es dafür einen zwingenden äußeren Anlass gibt? Manche Wege, die dorthin führen, sind eigentlich paradox. Ein Klassiker der Ursachen für den Weg in die erlernte Hilflosigkeit ist der Erfolg der Vergangenheit oder auch der aktuelle Erfolg, wenn die Geschäfte gerade gut laufen. Das lässt gerne die Überzeugung reifen, das eigene Geschäft und die Art, wie es bisher betrieben wird, für unangreifbar zu halten. Verfestigen sich diese Überzeugungen über einen längeren Zeitraum, werden sie beizeiten ein Teil der dominanten Logik, die Sie in jedem Unternehmen finden.
Die dominante Logik ist so eine Art Filter, durch den das Unternehmen sich selbst wahrnimmt. Die eigene Wahrnehmung passt dabei in der Regel nicht gänzlich zur Außen- oder Fremdwahrnehmung. Trotzdem übt die dominante Logik großen Einfluss auf die Entscheidungen und das Handeln des Unternehmens aus. Sie prägt sogar zu einem guten Teil die Unternehmenskultur und wird ein Teil davon. Solange Ihnen Ihre dominante Logik also sagt, dass Sie gerade alles genau richtig machen und darum Ihr Geschäft stabil läuft, haben Sie überhaupt keinen Grund, über Veränderungen nachzudenken. Ihre Organisation fängt dann recht zuverlässig jeden wieder ein, der etwas anderes sagt oder der echte Transformations-Impulse einbringt. Das ist keine böse Tat, sondern eine logische Reaktion eben auf das, wovon Sie und Ihr Team in dem Moment überzeugt sind.
Ein teuflischer Mechanismus, wie Sie sich gut vorstellen können, und ein gefährlicher, aber trotzdem häufig anzutreffender Bias. Er führt vor allen Dingen dazu, die leisen Signale, die auf eine Veränderung in den eigenen Märkten und Rahmenbedingungen hinweisen, zu übersehen oder zu ignorieren. Er sorgt auch dafür, dass wenig Energie und Aufmerksamkeit in die Erarbeitung und Bewertung von strategischen Szenarien investiert wird. Wer möchte sich schon gerne ohne Not ernsthaft mit der Frage beschäftigen, wie der eigene Markt und das eigene Unternehmen in zwanzig Jahren aussehen wird?
Solche Ausprägungen von erlernter Hilflosigkeit führen in Unternehmen rasch in eine Art organisatorischer Lethargie, im Extremfall gar in eine weitgehende oder vollständige Ablehnung jedweder Veränderung oder Transformationsarbeit. Dabei fallen Unternehmen nicht plötzlich und unerwartet in eine solche Unbeweglichkeit oder Erstarrung. Das hat immer eine (meist längere) Vorgeschichte.
Neben dem Erfolg der Vergangenheit können genauso gut die gewachsenen Strukturen von Unternehmen wesentliche Auslöser für deren erlernte Hilflosigkeit sein. Besonders größere und arrivierte Organisation und die Menschen darin sind anfällig für eine Kultur der maximalen Absicherung. Solche Unternehmen agieren irgendwann aus einer Verteidigungsposition heraus, denn sie fühlen sich als die Gejagten am Markt und haben folglich eher etwas zu verlieren. Dieses „risk to loose something“ macht die Unternehmen beizeiten über das nützliche Maß hinaus vorsichtig und risikoavers. Indikatoren für diese Art von Vorsicht sind ausgeprägte Kontrollprozesse und -instanzen bis in die kleinsten operativen Tätigkeiten hinein. Das erzeugt ein gutes Gefühl von Sicherheit und Stabilität, unterdrückt aber weitestgehend wirkliches Unternehmertum. Muss ein solches Unternehmen beizeiten, aus welchen Gründen auch immer, massiv und schnell auf eine veränderte Lage reagieren, verheddert es sich dabei dann gerne in der eigenen Struktur.
Menschen in solchen auf strukturelle Stabilität bedachten Unternehmen, die etwas verändern und bewegen wollen, laufen dort in mannigfaltige Bremsen hinein. Die Lethargie wird institutionalisiert und die erlernte Hilflosigkeit quasi zu einem Teil der Unternehmens-DNA. Das geht so lange gut und fällt nicht weiter auf, wie das Unternehmen wie ein Tanker geradeaus am Markt fahren kann und damit wirtschaftlichen Erfolg einfährt. Spätestens in Situationen, die Adaptivität und Transformation erfordern, gerät das Unternehmen aber an seine Grenzen und läuft recht wahrscheinlich in die erlernte Hilflosigkeit hinein. Und die Menschen, die etwas verändern wollten und das auch konnten, haben dieses Unternehmen bis dahin vermutlich schon wieder verlassen.
Erlernte Hilflosigkeit in Unternehmen beruht also rein auf gedanklichen Konstrukten oder Gewohnheiten. Sie basiert auf spezifischen Überzeugungen in den Köpfen der beteiligten Menschen. Das macht es in der Theorie leicht möglich, sie von einem Moment auf den anderen loszulassen und so aus der erlernten Hilflosigkeit herauszukommen. Doch solche Überzeugungen und Gewohnheiten verankern sich tief in unseren Köpfen. Schon einen einzelnen Menschen aus seiner Gewohnheit herauszuholen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Eine ganze Organisation mit vielen Menschen, die alle gleichsam einer dominanten Logik unterliegen, von einem neuen Weg zu überzeugen, ist eine ungleich härtere Aufgabe. Es ist möglich, bedeutet jedoch für das Unternehmen und Management eine erhebliche Anstrengung und ein erhebliches Durchhaltevermögen.
Wie also wappnen gegen die erlernte Hilflosigkeit? Da gibt es leider kein Patentrezept und auch nicht die eine Maßnahme, die garantiert wirkt. Was einfach geht und immer hilft, ist zuerst Selbstreflektion. Beschäftigen Sie sich einfach regelmäßig und ehrlich mit der Frage, wie groß Ihr Veränderungswille und Ihre Beweglichkeit persönlich und als Unternehmen wirklich sind. Was haben Sie in den letzten drei Monaten an wirklich substanziellen und anspruchsvollen Veränderungen angepackt und auch wirksam umgesetzt? Wie leicht war das und wie viele internen Hürden und Widerstände mussten Sie dabei nehmen? Das ist so eine Art Anamnese, und wenn Sie die Analyse ernst nehmen und aufmerksam durchführen, dann wissen Sie, ob Sie der erlernten Hilflosigkeit schon anheimgefallen sind oder ob Sie auf dem Weg dorthin sind.
Sie können einige nützliche Eigenschaften zu neuen Gewohnheiten machen, die Sie und Ihr Team vor der erlernten Hilflosigkeit schützen. Stellen Sie doch einfach jederzeit Ihr Geschäft, so wie es heute läuft, in Frage. Das machen Unternehmen eher ungerne, weil es die Menschen darin als Kritik an sich selbst interpretieren und gerne so deuten, als sei in der Vergangenheit alles schlecht gewesen. Wenn Sie diese Wahrnehmung zulassen, wirkt das in der Tat kontraproduktiv. Aber es geht auch anders. Wenn es Ihnen gelingt, Ihrem Team zu vermitteln und klarzumachen, dass die Welt draußen sich ständig verändert und dass sie sich als Unternehmen darum beständig darauf anpassen müssen, entsteht daraus ein Teil der neuen dominanten Logik. Ihr gemeinsamer Blick geht nicht zurück auf das, was war, sondern nach vorne auf das, was es morgen benötigt. Sie ziehen dieser kritischen Perspektive den Stachel und setzen Ihr Unternehmen unter eine Art permanenter produktiver Vorspannung.
Auch regelmäßige Transformationsarbeit ohne einen zwingenden äußeren Anlass, einfach aus der inneren Motivation heraus, Ihr Unternehmen auf das nächste Level zu bringen, schützt gut vor erlernter Hilflosigkeit. Das zwingt Sie und Ihr Team, jederzeit intern zu optimieren, um auch genug Zeit und Aufmerksamkeit für diese Transformationsarbeit zur Verfügung zu haben. Veränderung wird so zur neuen Normalität und jede ungeplante Störung der Zukunft, die Sie zum Handeln zwingt, versetzt dann Ihre Organisation nicht mehr in eine besondere Aufregung oder führt in einen Angstreflex, der dann die Lethargie auslöst.
Erlernte Hilflosigkeit wirkt wie Ketten, in die man Sie und Ihr Team legt. Es benötigt große Kraft und Anstrengung, diese zu sprengen und wieder veränderungsbereit und veränderungsfähig zu werden, wenn es darauf ankommt. Besser also, Sie unternehmen gleich alles Notwendige, um als Organisation erst gar nicht in die erlernte Hilflosigkeit geraten zu können. Machen Sie doch einfach die regelmäßige „Nabelschau“ und daraus folgend die permanente Veränderung zu einem Teil Ihrer künftigen dominanten Logik. Damit betreiben Sie die bestmögliche Vorsorge gegen die erlernte Hilflosigkeit. Sie schaffen und pflegen damit zudem eine dynamische Kultur in Ihrem Unternehmen, die Ihnen ohnehin langfristig bessere Ergebnisse bringen wird und in der sich obendrein Ihre Performer wohlfühlen. Sie entwickeln damit ziemlich sicher sogar mehr und neue Performer in und aus Ihrem Team. Mehr als den Sprung über den eigenen Schatten und solide Management- und Personalentwicklungsarbeit braucht es dafür nicht. Fassen Sie einfach den Mut, legen Sie los und bringen Sie mehr und neue produktive Dynamik in Ihr Team und in Ihr Unternehmen!
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